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Je länger der Ukrainekrieg dauert, desto handfester treten die geopolitischen Auswirkungen dieser militärischen Auseinandersetzung zutage


Was bedeutet der Krieg für uns und wie sollen wir mit diesem Krieg umgehen, gerade was seine Auswirkungen auf Europa anbelangt?   

Im August dauert der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine schon ein halbes Jahr, ein Ende der Kampfhandlungen ist nicht abzusehen. Nach einer anfänglichen Begeisterung vieler europäischer Bürger für den Mut und Verteidigungswillen der Ukrainer macht sich immer mehr Ernüchterung breit. Gerade in Deutschland ist die Lage wegen des Atomausstiegs besonders brisant. Die ungarische Position zum Krieg und seinen Auswirkungen wird indes von immer mehr Analysten weltweit geteilt.

Die Bekenntnisse der Ungarn

Der Standpunkt der Ungarn in diesem Krieg war schon bei Beginn der Feindseligkeiten stringent und nie Gegenstand taktischer Manöver oder abrupter Kursänderungen, sondern blieb immer derselbe:

Man verurteilt die russische Aggression, hilft der Ukraine materiell und finanziell, erkennt ihre territoriale Integrität und nationale Souveränität an und steht den Flüchtlingen, inzwischen über 800.000 Personen, bei.

Mit der Aufnahme und Versorgung der ukrainischen Flüchtlinge hat Ungarn Menschlichkeit und Anteilnahme bewiesen. Ebenso klar wurde immer wieder das umfassende Sanktionsregime der Europäischen Union unterstützt, wenngleich die politische Führung des Landes unablässig betonte, dass sie sich diesem nur aus europäischer Solidarität anschließt und eigentlich nicht an die Wirksamkeit von Sanktionen glaubt. Ferner bekräftigte die ungarische Regierung, das EU-Beitrittsgesuch der Ukraine zu unterstützen.

Zugleich wehen in Budapest und anderen ungarischen Städten anders als in vielen westeuropäischen Kapitalen keine ukrainischen Fahnen, die Ungarn pflegen einen distanziert-realistischen Blick auf die heutige Ukraine, schließlich ist ihnen das Land und seine Politik nicht gänzlich unbekannt. Dies liegt insbesondere an der problematischen Umgangsweise des ukrainischen Staates und vieler Ukrainer mit der dort siedelnden autochthonen ungarischen nationalen Minderheit von etwa 150.000 Personen.

Diese war immer wieder wechselvollen Bedingungen ausgeliefert, erfuhr aber insbesondere seit 2014 eine zunehmende Verschlechterung ihrer Lage. Eine ausführliche Analyse der dortigen Gemengelage wurde jüngst von Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit auf dessen Internetseite publiziert.

Standpunkte einiger anderer Länder

Neben der großen Welle der Solidarität mit der Ukraine und der Aufnahme der von dort kommenden Flüchtlinge stimmte Europa geschlossen für ein ganzes Bündel verschiedenster Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Ebenso wurde der Ukraine die EU-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt. Diesbezüglich ist also keine Abweichung von der ungarischen Position auszumachen.

Allerdings sind die Fragen der Energiesanktionen sowie der Waffenlieferungen deutlich folgenschwerer, legen sie doch einen Dissens zwischen einzelnen europäischen Ländern offen und belasten das Verhältnis zwischen diesen. Während sich bei den Energiesanktionen ein Kompromiss abzeichnete und auf dem Landweg weiterhin Öleinfuhren aus Russland möglich sind, sowie die Gassanktionen zunächst einmal nicht auf der Tagesordnung stehen, herrscht in Fragen der Waffenlieferungen rege Betriebsamkeit und auch ordentlich Zwist.

Viele Länder sind immer noch der Auffassung, dass die Ukraine den Verteidigungskrieg gewinnen könne und die Chance der Ukrainer auf die erfolgreiche Zurückdrängung des Aggressors proportional zur Anzahl und Qualität der gelieferten Waffen aus dem Westen steigen würde.

Dabei wird jedoch außer Acht gelassen, dass stattdessen Russland militärisch, personell und wirtschaftlich den längeren Atem haben dürfte.

Demgegenüber konzentriert sich der ungarische Standpunkt auf die Frage, dass

der Krieg am besten durch einen für beide Seiten annehmbaren Kompromiss, einen Waffenstillstand und schließlich einen Friedensvertrag beendet werden müsse.

Waffenlieferungen würden den Krieg nur verlängern, so die von Budapest vertretene Auffassung, zumal jede Verlängerung des Krieges nach den bisherigen Erfahrungen Russland zu stärken scheint.

Ernüchternde Bilanz nach sechs Monaten

Doch wo steht die Ukraine nach sechs Monaten und wo steht Europa? Nach einem halben Jahr Krieg hat Russland weite Teile der Ukraine erobert, und die territoriale Zweiteilung des Landes wird immer mehr zu einem realistischen Szenario. Viele Menschen sind umgekommen, auf beiden Seiten. In den internationalen Diskursen wird übrigens oft übersehen, dass an die 100 ethnische Ungarn auf der Seite der Ukraine gefallen sind, als Angehörige der regulären ukrainischen Streitkräfte.

Beide Kriegsparteien verkünden voller Zuversicht, den Krieg gewinnen zu wollen. Eine friedliche Beilegung des Konflikts scheint ferner denn je.

Je länger der Krieg geführt wird, desto verbissener und unnachgiebiger werden die Kriegsparteien, schließlich haben beide Seiten viel zu verlieren.

Viel zu viel wurde bereits investiert, zerstört und verloren – ein Nachgeben erscheint in dieser Lage als ein Zeichen der Schwäche. Über den eigenen Schatten zu springen, wird mit jedem Kriegsmonat schwerer.

Wunschdenken und Realität

Die Grundannahme des Westens, die Ukraine könnte Russland zurückschlagen und sogar bezwingen, wird immer mehr zu einem Wunschdenken, das mit der Realität wenig zu tun hat. So sehr die Ukraine moralisch auf der richtigen Seite steht, so wenig dürfen wir uns bezüglich des Kriegsverlaufs etwas vormachen. Eine realistische Sicht ist daher umso nötiger.

Ebenso entpuppte sich die Taktik, Sanktionen würden Russland erheblich schaden und man selbst könne diese unbeschadet überstehen, als wohlfeiler Selbstbetrug.

In der heutigen Situation führen die weltweit gestiegenen Energiepreise zum skurrilen Umstand, dass Russland zwar erheblich weniger gen Westen exportiert, aber dank höherer Preise etwa für Energieträger Rekordeinnahmen verzeichnet. Die Exportausfälle kompensiert das Land schnell mit Ausfuhren in Richtung Indien und China.

Außerdem scheint man in vielen westlichen Hauptstädten der Welt noch nicht darüber nachgedacht zu haben, dass Russland trotz des aggressiven Angriffskrieges international nicht etwa isoliert dasteht, sondern blühende geschäftliche, wirtschaftliche und politische Beziehungen zu vielen anderen Ländern unterhält und gar noch ausbaut.

Die meisten Länder tragen die westliche Politik gegenüber Russland nicht mit, wie etwa die BRICS-Staaten.

Dabei sind Brasilien, Indien und Südafrika (oder gar Israel) keineswegs russlandfreundliche halbautoritäre Staaten, sondern Demokratien, die sich auf ihre eigenen nationalen Interessen konzentrieren und mit dem entfernten Krieg zweier slawischer Brudervölker im weit weg gelegenen Osten Europas nichts anzufangen wissen. Noch weniger möchten sie in diese Auseinandersetzung involviert werden.

Gescheiterte Grundannahmen

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán drückte dies unlängst mit der passenden Metapher aus: „Der Wagen hat vier Platten, alle Reifen müssen gewechselt werden.“ Gemeint waren die obig beschriebenen Grundannahmen, die sich alle als falsch herausgestellt haben. Es wäre nach Orbán Zeit für einen Politikwechsel hinsichtlich Russlands. Schließlich würde Europa aufgrund der eigenen strategischen Fehler in Mitleidenschaft gezogen.

Hohe Energiepreise, Inflation, drohende Wirtschaftskrise und Energielieferengpässe insbesondere im demnächst – nach grüner Hoffnung (und gesetzlicher Lage) – atomenergiefreien Deutschland sind die unmittelbare Folge der verfehlten Sanktionspolitik.

Während Europa mit dem Krieg verliert, gewinnen jedoch drei Großmächte: Die Vereinigten Staaten von Amerika, China und Russland. Dabei zählt die Ukraine genauso zu den Verlierern des Krieges wie ganz Europa,

das immer weniger seiner strategischen Souveränität umzusetzen imstande ist. So gesehen mag es kaum verwundern, dass nicht alle globalen Akteure daran interessiert sind, den Krieg alsbald zu beenden.

Immer mehr Zweifler melden sich zu Wort

Die Position des kleinen Ungarn steht bei weitem nicht mehr alleine da. Vor kurzem hat auch der weltberühmte schottische Historiker Niall Ferguson darauf hingewiesen, dass die Sanktionen wirkungslos seien, denn Russland könne weiterhin Energieträger anderswohin verkaufen, und die politische Führung des Landes bleibe von diesen unbeeindruckt. Ferguson antizipiert bereits eine Kriegsmüdigkeit und einen Rückgang der Unterstützung für die Ukraine.

„Es ist nicht ausgeschlossen, dass Putin im Falle einer Wiederwahl Trumps nicht in die Ukraine einmarschiert wäre“, spekuliert der renommierte Harvard-Professor. Dieser Auffassung ist übrigens Viktor Orbán. Im siebenbürgischen Bad Tuschnad äußerte er: „Wäre Donald Trump der amerikanische Präsident und Angela Merkel die deutsche Bundeskanzlerin gewesen, wäre dieser Krieg nie ausgebrochen.“

Vor kurzem bezweifelte das deutsche Polit-Urgestein Klaus von Dohnanyi auf dem MCC-Fest in Esztergom, dass die Vereinigten Staaten von Amerika ein Interesse an einer Beendigung des Krieges hätten. Er drängte die Europäer, auf die Ukraine einzuwirken, um möglichst schnell zu einem Friedensschluss zu kommen. Er betonte – wie schon in seinem jüngst auch auf Ungarisch erschienenen Buch „Nationale Interessen“ – die Bedeutung einer eigenständigen europäischen Politik unter Wahrung und Beachtung der nationalen Interessen.

Ebenso zweifelte Dohnanyi an der Wirksamkeit der Russlandsanktionen und zog auch historische Parallelen zu den Sanktionen gegen Iran oder den Irak, die allesamt nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt hätten. Die Sanktionen wären nur für das heimische Publikum, um die eigenen Wähler zufriedenzustellen, indem die Politik Handlungsfähigkeit demonstriere. Nach seiner Auffassung hätten die USA keinerlei Interesse an einem starken Europa, da sie Europa zwecks ihrer eigenen Sicherheit lediglich als Brückenkopf bräuchten.

von Dohnanyi: Die ungarische Position bekannter machen!

Von Dohnanyi verwies auf die „monochronen“ deutschen Medien, in denen es über diese Fragen keine Diskussionen gäbe. Er empfahl den Ungarn, diese Debatten in die Parteipolitik nach Berlin zu bringen, beispielsweise den ungarischen Standpunkt hinsichtlich der Energiesanktionen stärker vorzubringen und zu erklären, denn dieses Auftreten würde Europa insgesamt stärken.

„Die ungarische Position ist es wert, in Europa klar veranschaulicht zu werden“,

so der ehemalige Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg.

Für die Ungarn bleibt also noch viel zu tun. Die Position der Realpolitik, der Besinnung auf die eigenen nationalen Interessen und die Suche nach einer friedlichen Lösung des bewaffneten Konflikts sind mittlerweile zu Erkennungsmarken der ungarischen Politik geworden. Sie in ganz Europa zu verbreiten und umzusetzen ist eine große, aber nicht ganz hoffnungslose Herausforderung. In vielen Ländern des Kontinents gehen diese entsprechenden Diskussionen gerade erst los. Zeit für neues Denken!

Der Autor ist Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium.

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